Abendritual „Werbung vorlesen“

Bis vor wenigen Tagen dachte ich noch, es handle sich um ein individuelles Phänomen. Eines, das nur bei Kind2 ausgeprägt ist - und das dafür massiv. Es begann damit, dass das Kind mich zielsicher in die Spielzeugabteilung des hiesigen Warenhauses schleppte, um dort gefühlt stundenlang das Angebot eines dänischen Plastikklötzchenherstellers in Augenschein zu nehmen. Regale über Regale voller Pappkartons, einer attraktiver als der andere, ließen fast unweigerlich ein „ICH WILL DAS UND DAS UND DAS UND ZWAR SOFORT!!!!-Drama aufziehen, das ich nur mit Müh und Not mit Hinweis auf den bevorstehenden Geburtstag des Kindes abwehren konnte („Du kannst dir das ja wünschen!!“). Allerdings mussten wir unbedingt das ca. 30seitige Werbeheftchen mitnehmen mit dem Versprechen, dass das Kind sich darin etwas aussuchen dürfe. Warum nicht, dachte ich  naiv, dann landet das Ding halt zu Hause schnell vergessen im Altpapier.

Haha. Von wegen.

Am Abend, ich hatte Zu-Bett-bring-Dienst, fragte ich das Kind, was ich vorlesen solle. Den Drachen Kokosnuss oder  Lumpen-Karline oder Kater Mikesch vielleicht? „Nein!“, sagte das Kind entschieden, ich solle das Werbeheft vorlesen, nur das und nichts anderes. Versprochen sei versprochen!! Nun gut, schauen wir uns halt das Heftchen an. Was ich da vorlesen könne, war mir zwar ein Rätsel, aber ein einziges Mal durchblättern wäre schon drin. Dachte ich. Im Nachhinein lache ich über mein naives früheres Ich. Denn beim Durchblättern blieb es nicht, nein nein! Jedes einzelne Produkt musste genauestens betrachtet und auf ein „DAS wünsch ich mir“ geprüft werden. Es blieb auch nicht beim Vorlesen der Produktnamen. Neinnein. Empfohlenes Alter, Preis, dazugehörende Minifiguren - alles musste in allen Einzelheiten durchgekaut werden. Fragen Sie mich ruhig irgendwas, ich kenne mich aus!

Und bei EINMAL blieb es schon gleich gar nicht, denn die Prozedur sollte sich in den kommenden Wochen regelmäßig wiederholen. 5234trölfzigMillionenmal. Abend für Abend. Naja, ok, jeden 2. Abend, wenn ich eben mit Insbettbringen dran war. Der Mann kam dagegen meist drumherum. Wieso, habe ich nicht herausgefunden. Bei mir setzte sich das Kind immer gegen meine mütterliche Gutmütigkeit (ein Euphemismus für „ich-hab-keinen-Bock-auf-stundenlanges-Drama-und-gebe-darum-halt-klein-bei“) durch. Ausgerechnet ich, die ich Werbung im Großen und Ganzen hasse, lag also nun im Kinderbett, las Produktnummern und alberne Produktnamen vor und ärgerte mich unfassbar über diese schöne bunte Warenwelt, die dazu noch so nervtötend vor Genderstereotypen strotzt, dass es nicht zum Aushalten ist. Sie wissen schon. Rosa-glitzer-Shopping-Spaß vs. ausgiebige Kriegerszenarien. Zudem ist das wiederholte Durchblättern des Heftchens wirklich abgrundtief langweilig, aber der fehlende Fließtextes lässt es leider nicht zu, dass ich mit einer Hirnhälfte parallel an etwas anderes denke, was ich sonst beim Vorlesen öder, aber sehr geliebter Bücher (Kokosnuss etc.) ganz gerne praktiziere. Am Ende wäre ich sogar bereit gewesen, Connybücher oder ähnliches vorzulesen, aber nein, es musste das Heftchen sein, immer und immer wieder.

Ich wähnte mich mit diesem Phänomen, wie eingangs erwähnt, völlig alleine, bis ich kürzlich mit einer Kollegin ins Plauschen kam und sie mir erzählte, dass sie ihrem Kind gerade immer das Werbeprospekt einer großen dänischen Plastiklötzchenfirma vorlesen müsse. Ich fiel ihr spontan in die Arme und hauchte ihr ein erleichtertes „ICH BIN NICHT ALLEIN!!!!“ ins Ohr. In unserer kleinen Selbsthilfegruppe analysierten wir nun die Werbestrategie des großen Spielzeugkonzern (beim Werbeheftchen bleibt es ja nicht. Es gibt ja zu jedem Scheiß auch noch Online-Filmchen und -Spiele!!1!!!) und klagten uns gegenseitig unser Leid.

Nach dem Geburtstag geriet das Heftchen dann zum Glück ein wenig in Vergessenheit. Immer wieder lösten sich wegen des intensiven Gebrauchs nun Seiten heraus, die unauffällig in Richtung Altpapier transferiert wurden. Bis ich kürzlich versehentlich mit dem Kind zu nahe an der Spielwarenabteilung des großen Warenhauses vorbeiflanierte, mich unversehens mitten darin befand und es triumphierend das besagte Werbeheft aus dem Ständer zog. „Schau mal, Mama! Das nehmen wir mit!!! Liest du mir das nachher dann vor??“ Früher, ja früher ruinierte man sich wegen dieser Firma wenigstens nur die Fußsohlen, wenn man unversehens auf eines dieser Klötzchen trat. Aber heute sind es die Nerven gleich mit dazu.

Dekoration - nicht käuflich zu erwerben!!!

 

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11 Antworten zu Abendritual „Werbung vorlesen“

  1. Kai schreibt:

    Ich kenne das gut von Prospekten, die am Küchentisch liegen und jeden Morgen beim Papa-Kinder-Frühstück gelesen werden müssen (müller und so…) . Mein Beileid .. ;)

  2. Greta schreibt:

    Bei uns versorgt die Freundin des Vaters meiner Kinder die Jungs mit entsprechenden Katalogen. Ihr Sohn darf immer ausreißen und an seine Zimmertür kleben, was er sich wünscht (und bekommt es bei nächster Gelegenheit). Das verhindert zuverlässig einen großen himmlischen Patchworkfrieden…

  3. Katharina schreibt:

    Oh ja. Ausschneiden und Collagen kleben. Für DICH Mama, ich habe mir EXTRA Mühe gegeben! Die darfst du NIE, NIE, NIEMALS NICHT fortwerfen.
    Und jetzt müssen wir unbedingt zurück zu $Spielwarengeschäft fahren, weil ich den ganzen dänischen Plastikklötzekatalog zerschnippelt habe…

    *gnarf*

    P.S. Freu Dich auf die Vorweihnachtszeit!
    P.P.S. Frau Dich auch auf die Zeit, wenn Du Dir statt wie es in der Schule lief und welcher Kumpel doof ist, anhören darfst, wer bei den Ninjastarwarsbioniclesupernexoheros gegen wen kämpfen muss und weshalb und wer wessen Vater ist und überhaupt und sowieso. Da behaupte noch einer, Jungs seien nicht kommunikativ.

    • cloudette schreibt:

      :-D & <3
      Musste grad beim Lesen deines Kommentars lachen - danke dafür (weil: es ist ansonsten bisher ein scheißnervigerblödTag). Irgendwie sind sie doch auch sehr witzig, diese Kinder :-)

  4. Pingback: Vernetzt im Mai 2017 | Mama hat jetzt keine Zeit…

  5. B. Cottin schreibt:

    Was für ein toller Erfolg für die Werbetexter und -fotografen! Das muss man sich mal vorstellen.

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