Die Schatten der letzten Tage

Bis zum vorletzten Tag des alten Jahres war sie fit wie ein Turnschuh, unsere Oma. Obwohl sie von Turnschuhen nichts hielt und von Sport schon gleich gar nichts. Sie bevorzugte eine schöne Tasse Kaffee oder einen Piccolo, gemütlich an gedeckter Tafel, wo sie stundenlang in ihrem Kuchen herumstocherte und vor lauter Reden nicht zum Essen kam. Fit war sie, für ihr Alter. Etwas klapprig und die Augen taten es auch nicht mehr recht, aber die 94 sah ihr keiner an. Wie stolz sie war, als sie Anfang Dezember noch für so einen „jungen Hüpfer“ gehalten wurde. Also für 80, ha!

Am vorletzten Tag des alten Jahren traf sie der Schlag. Die Oma, wie wir sie kannten, gab es nicht mehr. Im Bett lag nun eine sterbende alte Frau. Die nicht mehr sprechen konnte, sich kaum noch bewegen. Ein uralter Mensch. Ein Mensch, der aussah, wie die Oma väterlicherseits in ihren letzten Wochen. Wie der Opa in den Stunden vor seinem Tod. Ist das wirklich Oma, ich erkenne sie nicht. Vielleicht wenn ich von oben schaue, von links oder rechts, vielleicht sehe ich einen Hauch von ihr? Wie sehr sich ein Mensch verändern kann. Wir halten ihre Hand, die noch immer so schön ist, so gepflegte, schlanke, schöne Finger. Die Hand, die erkennen wir wieder. Sie drückt sie ab und zu.

Wie ist es, wenn man alt wird? „Altwerden ist nicht schön“, sagte sie immer wieder. Sie hat gehadert mit dem Alter. Sie wollte reisen, die Welt sehen, auf die Bahn nach Berlin. Von Altersmüdigkeit keine Spur, sie hatte Hummeln im Arsch, ein junger Mensch in alter Hülle.

Wie ist es, wenn man stirbt? Was sagt man jemand, der stirbt? Keine Angst, Oma, es wird alles gut?  Nein, ich kann sie nicht beruhigen, ich habe keine Ahnung, was wird, ich habe keinen Glauben an ein Danach. Wird es gut? Wirst du bei deinem Mann, deinem Sohn, deiner Mutter sein? Ich weiß es nicht. Ich wünsche es ihr, wünsche, dass ihr Glauben in Erfüllung geht. Oma, wir sind alle da, wir denken an dich. Und wir passen auf deine Fotoalben auf. „Schmeißt nicht alles weg, wenn ich mal nicht mehr da bin. Vorallem nicht die Alben, euer Opa hat sich solche Mühe gegeben.“ Ist es das, was sie beruhigt? Oder ist es ihr jetzt egal, dieser ganze materielle Kram? Ich sage es trotzdem. Was sonst.

Sie hätte es gehasst, sich so zu sehen. Aber wie ist es jetzt? Was empfindet sie, was bekommt sie mit? Wir wissen gar nichts.

Sterben, so habe ich auf einer der vielen Webseiten über Sterbebegleitung gelesen, die ich angesurft habe, Sterben ist so individuell wie das Geboren werden. Was braucht sie, was möchte sie hören? Möchte sie überhaupt etwas hören? Sollen wir bei ihr sein? Oder kann sie nicht gehen, gerade weil wir alle um sie herumsitzen, ihr das Händchen halten? Will sie nicht sterben? Wir wissen gar nichts.

Ich wünsche ihr eine gute Reise in diesen Tagen, immer wieder, auch wenn sie es vielleicht nicht hört. Abschied, immer wieder. Es dauert 17 Tage. 17 Tage, die ich ihr gerne erspart hätte.

Nun beschwören wir unsere Oma wieder herauf, um die Schatten der letzten Tage zu vertreiben. Mit einer Kerze, mit Bildern, mit Erinnerungen. Unsere Oma, wie sie ihren Kuchen zerteilt, wie sie redet und redet, von ihren Reisen träumt. Und wir wünschen ihr eine gute, letzte Reise, wohin auch immer.

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8 Antworten zu Die Schatten der letzten Tage

  1. was sagt man dazu? was kann ich dazu sagen? ich kannte deine oma nicht, und trotzdem habe ich jetzt ein bild von ihr. ein schönes. danke für das teilen deiner oma, mit mir. und ich wünsche ihr eine gute reise. und dir warme erinnerungen an sie.

    mit lieben grüßen,
    msp

  2. Ute schreibt:

    Danke für diesen schönen rührenden Text. Diese 17 Tage wie deine Oma sie erleben musste wünscht man niemandem, wünscht man sich auch selbst nicht. Aber wenn man andere Menschen anschaut, die dann noch jahrelang vor sich hinvegetieren, ist es bei euch doch noch glücklich ausgegangen. Und die schönen Erinnerungen sind noch ganz nah. Oder ?
    Schlimm ist es für die Zurückbleibenden trotzdem immer. Ich wünsche euch viel Kraft !
    liebe Grüße
    Ute

  3. die paulines schreibt:

    dein text berührt mich sehr und ich kann mitfühlen, wie sehr dir deine oma am herzen liegt und wie traurig du bist… ich mag dir einfach liebe grüße schicken!

  4. montine schreibt:

    Du sprichst mir sooo aus der Seele, ich hätte es nur nicht so gut formulierem können.

    „Am vorletzten Tag des alten Jahren traf sie der Schlag. Die Oma, wie wir sie kannten, gab es nicht mehr. Im Bett lag nun eine sterbende alte Frau. Die nicht mehr sprechen konnte, sich kaum noch bewegen. Ein uralter Mensch.“
    Und:
    „Wie sehr sich ein Mensch verändern kann. Wir halten ihre Hand, die noch immer so schön ist, so gepflegte, schlanke, schöne Finger. Die Hand, die erkennen wir wieder.“

    Wir sind alle nochmal hin, wir (bzw ich) dachten, sie wollte sich nochmal von allen verabschieden. So habe ich auch unser Kind (noch nicht 2 Jahre alt) mitgenommen. Damit sie ihn nochmal erlebt. Ich weiß nicht was sie davon mitbekommen hat, aber ich weiß, dass sie es sich gewünscht hätte, dass die Familie sie noch einmal besucht. Und ihr einziges Urenkelchen bis dahin sowieso. Es macht mich traurig wieder daran zu denken.

    Jetzt weiß ich nicht was ich weiter schreiben soll, denn wie tröstet man in so einer Situation?
    Ich wünsche Euch viel Zuversicht und Liebe, und daß Ihr immer ein gutes Andenken an Eure liebe Oma bewahren könnt. Im Herzen leben die Geliebten weiter.

  5. cloudette schreibt:

    Vielen Dank euch allen für eure mitfühlenden, lieben Worte! Auch denjenigen, die sich über Twitter oder FB meldeten.

  6. mama007 schreibt:

    Es ist ein Glück, einem Menschen in den letzten Tagen die Hand halten zu dürfen und sich langsam zu verabschieden. Meine Oma (ganz ähnlich deiner Oma im Leben, offensichtlich) ging im Schlaf und völlig unerwartet - ich denke oft, sie wäre noch hier bei uns. Wir trösten uns mit „So ist es für sie viel besser gewesen“, aber für uns hier im Jetzt ist es schwierig.
    Ich denke an dich und wünsche dir Kraft. Maria

  7. Pingback: #64: Blogwoche | Bloggen. Leben. Nähen.

  8. vierachtel schreibt:

    Ein rührender Text, danke.
    Ich denke nach deiner Beschreibung, es war ein kurzes und gnädiges und würdiges Ende. 17 Tage. Wie lange ihr Freude an ihr haben durftet und sie an euch.

    Aber das Sterben ist und bleibt uns verborgen. Ein Rätsel, das wir nur im eigenen Ende lösen können. Das ist schwer zu ertragen.

    Mein Beileid für den Verlust deiner Oma.

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