Die Wissenschaftlerin Alice Stewart fand in den 1950ern heraus, dass bereits einmaliges Röntgen in der Frühschwangerschaft das Krebsrisiko bei Kindern verdoppelt. Eine für sie selbst und die damalige Ärzt*innenschaft ungeheure Erkenntnis, schließlich war Röntgen zu dieser Zeit der große Hype und die Grenzwerte galten als unbedenklich. Ihr schlug ein äußerst eisiger Wind ob ihrer Kritik an dieser faszinierenden Technologie entgegen - und trotzdem ließ sie nicht locker und nahm den Kampf auf. Er sollte 25 Jahre dauern, erst dann wurde das Röntgen von Schwangeren eingestellt, das bis dahin einem Kind pro Woche das Leben gekostet hatte.
Mit diesem Beispiel leitet Margaret Heffernan ihre großartige Rede über Konflikte und den Mut zu widersprechen ein. Sie packt so unglaublich viel Kluges hinein, dass ich mir das Transkript an die Wand nageln möchte.
Wie oft scheue ich selbst Konflikte - aus Angst sie zu verlieren, mich lächerlich zu machen, nicht gemocht zu werden. Sei es in Beziehungen, bei der Arbeit oder in Organisationen. Konflikte sind aber notwendig, um Entwicklungen voranzubringen, Dinge zu verbessern, an uns selbst zu arbeiten. Wie sehr hat mich zum Beispiel kürzlich die im ersten Moment eher unangenehme Kritik einer Freundin weitergebracht, die sich die Zeit nahm, sich mit meiner Frage, meinem Anliegen auseinanderzusetzen und mir ehrlich ihre Meinung zu sagen, statt mich mit einem: „Ne, du, ist alles super“ zu beruhigen.
Konflikte sind wichtig, um an der Gesellschaft zu arbeiten - und um, so Heffernan, Katastrophen zu verhindern, wie der oben geschilderte Fall zeigt. Sie sind so gesehen nichts zu Vermeidendes, sondern etwas unbedingt Nötiges, eine Verpflichtung. Mit Säbelwetzen hat das nichts zu tun. Und auch nicht mit Missionieren, das ist, finde ich, nämlich die Pest.
Voraussetzung für Konflikte ist ein wirkliches Interesse, an der Person, an der Sache, am Thema. Und somit eine Form der Liebe. Weil ich mir nur für das, was mir wirklich wichtig ist, die Zeit und Kraft zur Auseinandersetzung nehme. Heffernan bezeichnet Konflikte als“gemeinsames Denken“ und plädiert dafür, diese Fähigkeit und den Mut, sie auch anzuwenden, möglichst frühzeitig zu vermitteln, also schon Kinder darin zu stärken, Autoritäten zu widersprechen.
ca. 13 Minuten, deutsche Untertitel. Via Nesselsetzer.
Das gefällt mir ausgesprochen gut. Nur, was heißt es konkret, überlege ich mir? Kinder lernen am Beispiel - und ich kann ihnen eigentlich nichts beibringen, was ich nicht selbst auch beherrsche. Also sollte ich erst mal bei mir selbst anfangen: die eigene Meinung zur Diskussion stellen, Konflikte eingehen, für Überzeugungen einstehen. Das erfordert Mut, die Überwindung von Angst.
Es heißt, mich selbst und die Kinder herauszufordern, unsere Meinungen zu begründen, Argumente zu finden, abzuwägen. Das geht natürlich verbal erst ab einem bestimmten Alter, klar. Und es heißt auch, sie nicht abzuschotten von Konflikten, die ich als Eltern, als Freundin, als Tochter etc. führe (bzw. führen sollte - das ist noch ein ausbaufähiges Übungsfeld).
Und letztendlich heißt es aber auch, einen Konflikt nicht eingehen zu müssen, wenn mir die Person, Sache, Idee die Zeit und Kraft nicht wert ist. Wenn nicht die Angst der Hemmschuh ist, sondern tatsächlich die fehlende Liebe oder Leidenschaft. Die Kunst liegt vermutlich darin, das eine vom anderen zu unterscheiden.
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Empfehlenswert und passend zum Thema: „Die Wahrheit wird euch frei machen“ - ein kleiner Leitfaden für mehr Ehrlichkeit im Alltag. Da fängt es nämlich an.
Word!
wow, das trifft so dermaßen mein persönliches Thema gerade…..ich teile das gleich mal auch bei mir!
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